Kampf gegen die „Flutdemenz“ auf allen Ebenen ist wichtiger denn je!
Ein Jahr nach der Flutkatastrophe kommt zu den Herausforderungen des Wiederaufbaus zunehmend der Kampf gegen das sinkende Problembewusstsein und für die Akzeptanz notwendiger Präventionsmaßnahmen. Statt auf das Sankt-Florians-Prinzip zu vertrauen, muss Gefahrenlagen für die Zukunft vorgebeugt werden.
Ein aktueller Blick auf Bad Neuenahr (am 14. Juni 2022): 14. Juni 2022: Die Kurgartenbrücke gibt es nicht mehr, auch das Steigenberger Hotel sowie das Kurhaus sind teils stark beschädigt. - Foto: Ralf Schönfeld / Haus & Grund
Von Verbandsdirektor RA Ralf Schönfeld
Das Extremwetterereignis „Bernd“ führte zu geschätzten Gesamtschäden von 40 bis 50 Milliarden Euro und forderte mehr als 230 Todesopfer innerhalb einer Woche. Betroffen waren nicht nur die Regionen an Ahr, Erft und ihren Nebenflüssen, sondern auch Belgien, Luxemburg und die Niederlande. In einer aktuellen Analyse hat sich die Zurich Versicherung mit der Frage beschäftigt, wie ein Extremwetterereignis dieses Ausmaßes grundsätzlich rechtzeitig erkannt und den potenziellen Folgen besser begegnet werden kann.
Klar ist: Wer die Katastrophe allein auf ein unvorhersehbares Extremwetterereignis infolge des Klimawandels reduziert, gegen dessen Folgen man machtlos ist, verkennt die komplexe Realität. Die Studie zeigt, dass ein unzureichendes Hochwasserverständnis, eine problematische Wiederaufbaustruktur sowie ungenügende Maßnahmen zur Risikoreduktion im Vorfeld einen entscheidenden Anteil an der Katastrophe hatten. Der Bericht gibt auch Empfehlungen an die politischen Verantwortlichen auf der Ebene von Kommunen, Land und Bund, wie man in Zukunft Themen wie Frühwarnungen, Katastrophenschutzstruktur sowie Hochwasserprävention und das Gefahrenbewusstsein in der Bevölkerung besser gestalten und somit für mehr Sicherheit sorgen kann.
Ungenaue Vorhersagen und unzureichende Frühwarnsysteme
Während das Extremwetterereignis in seiner Intensität gut vorhergesagt wurde, gab es in Bezug auf das zu erwartende Hochwasser nur für die größeren Flüsse wie Rhein und Mosel treffende Aussagen. Die Situation an den kleineren Flüssen konnte auch nicht annähernd exakt vorhergesagt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zu einer ungenügenden Zusammenarbeit zwischen meteorologischen und hydrologischen Vorhersagediensten sowie lokalem Katastrophenschutz kommt auch eine zu geringe Anzahl an Pegelstationen, die zu einer Hochwasserprognose beitragen. Zudem ist die Genauigkeit von Hochwassermodellen bei Weitem nicht ausreichend.
Die aktuellen Frühwarnsysteme inklusive der Dienste wie KATWARN oder der NINA-Warn-App haben entweder keine, zu wenige oder widersprüchliche Informationen geliefert. Die warnenden Sender sowie die Empfänger waren nicht immer ausreichend geschult, um die Möglichkeiten des Systems optimal zu nutzen. Push- statt Pull-Nachrichten würden eine stringente Kommunikationskette von den Behörden über die lokalen Einsatzkräfte bis hin zur Bevölkerung sicherstellen. Dazu muss außerdem die Lücke zwischen technischen Meldungen durch Behörden hin zu leicht verständlichen Texten für alle Generationen geschlossen werden.
„Bernd“ war keineswegs die historisch größte Katastrophe
Die Flutkatastrophe wurde von vielen der Betroffenen als „beispiellos“ und „unvorhersehbar“ beschrieben. Dies ist angesichts der Umstände zwar verständlich, aber auch nachweislich falsch. Aufzeichnungen belegen, dass es im Ahrtal bereits 1804 eine Überschwemmung ähnlicher Größenordnung gab. Auch 1910 gab es ein Hochwasser, das vorliegende Pegelaufzeichnungen deutlich überschritt, so die Analyse der Zurich-Versicherung.
Offenbar geraten Extremwetterereignisse zu schnell in Vergessenheit. Das führt möglicherweise dazu, dass beispielsweise weitreichende Hochwasserschutzpläne aus den 1920er Jahren nie umgesetzt wurden. Auch als 2016 das Ahrtal erneut überflutet wurde, wurde von einem Jahrhundertereignis gesprochen, was es in Anbetracht der Historie bei Weitem nicht war. Heute, bereits knapp ein Jahr nach „Bernd“, bewegt sich die Nachfrage nach Elementarschutzversicherungen bereits auf Vor-Katastrophen-Niveau. Die Fähigkeit, mit Naturgefahren umzugehen, hat bei der Bevölkerung insgesamt nachgelassen. Das Wissen, dass ein Hochwasser passieren kann und welche Ausmaße es annehmen könnte, muss daher stärker und dauerhaft bei den Menschen verankert werden.
Die verbale Dramatisierung als einzelnes Katastrophenereignis führt zu einer falschen Einschätzung der Ereigniswahrscheinlichkeit. Gleichzeitig fokussiert sich die öffentliche Diskussion oft allein auf den Klimawandel als ursächlich für die Folgen dieser Extremwetterereignisse. Auch das verengt die Betrachtung unzulässig auf nur einen von zahlreichen Aspekten, die am Ende zu diesen Katastrophen führen. Die generelle Prävention gerät aus dem Fokus. Kurz nach einem folgenschweren Hochwasser sehen die meisten Menschen die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen zwar noch ein. Vergeht aber einige Zeit, verblassen die Erinnerungen und die „Hochwasserdemenz“ beginnt.
Infrastruktur und Wärmeversorgung im Zeichen des Klimaschutzes
Bei aller Tragik der Ereignisse bietet der Wiederaufbau nun die einmalige Chance für nachhaltige Veränderungen, die für mehr Prävention und mehr Klimaschutz sorgen können. Das zeigen aktuelle Stellungnahmen des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Energie und Mobilität.
Für die Versorgungs- und Entsorgungsinfrastrukturen waren vielfach Zwischenlösungen und Provisorien notwendig. Der Schwerpunkt der Straßeninfrastruktur lag nach der Katastrophe zunächst bei der Wiederherstellung der Erreichbarkeit aller Ortslagen. Der Wiederaufbau insgesamt wird voraussichtlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Im Rahmen eines nachhaltigen und klimaangepassten Wiederaufbaus des Ahrtals unterstützt das Umweltministerium das Projekt „Klimaneutrale, hochwassersichere und noch leistungsfähigere Neuausrichtung der Abwasserleitung und Abwasserbehandlung im Ahrtal“. Die Neukonzeption der abwasserentsorgenden Infrastruktur erfolgt unter Berücksichtigung des Klimaschutzkonzeptes des Landes. Dazu gehört auch, die Kanalisation hochwassersicher zu gestalten.
Im Ahrtal wurden rund 9.000 Gebäude von der Flut getroffen, in vielen Fällen ist dadurch die Haustechnik einschließlich der Heizungsanlage zerstört worden. Ziel ist nun u.a., mehr als 90% der zerstörten Ölheizungen durch neue klimafreundliche Heizsysteme zu ersetzen und das Ahrtal so zu einer klimafreundlichen Region für Arbeiten, Wohnen und Tourismus zu entwickeln. Zentraler Bestandteil dieser neuen Strukturen soll der Aufbau von regionalen Wärmenetzen sein. Im Weinort Marienthal soll z.B. ein Nahwärmenetz auf Basis von Solarthermie und Holzpellets noch vor Ende dieses Jahres fertiggestellt werden. Auch in den Gemeinden Mayschoß, Rech und Dernau gibt es bereits Bestrebungen zur Errichtung lokaler Wärmenetze. Die Landesregierung geht davon aus, dass Wärmenetze auf der Basis erneuerbarer Energien in Zukunft einen wesentlich größeren Teil der Gebäude mit Wärme versorgen werden, da diese effizienter als dezentrale Lösungen in einzelnen Häusern und mit deutlich weniger Einschränkungen verbunden sind.
Fazit: Nicht nur Politiker, sondern auch die Bürger müssen zu Veränderungen bereit sein
Die Starkregenfälle vom Juli 2021 sind keineswegs einmalige Ereignisse. Aufgrund des Klimawandels ist in immer kürzeren Abständen mit der Wiederkehr dieser Ereignisse zu rechnen. Wer jetzt sagt, nach einem tausendjährigen Hochwasser haben wir die nächsten 999 Jahre Ruhe, der handelt fahrlässig.
Zu oft wurden in der Vergangenheit aus Fehlern, die bei ähnlichen Ereignissen passiert sind, nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen. Aktuell haben alle Betroffenen noch die Chance, das Thema Vorbeugung und Investitionen in die Sicherheit neu zu bewerten und nach zeitgemäßen Lösungen zur Prävention zu suchen. Anwohner in hochwassergefährdeten Gebieten (d.h. nicht nur im Ahrtal) dürfen nicht der Diagnose „Flutdemenz“ erliegen, sondern sollten jetzt prüfen, was Jeder für sich lokal verändern kann, um auf die nächste Flut besser vorbereitet zu sein.
Weitere Texte zum Thema:
- DRK bedankt sich herzlich bei Haus & Grund Mitgliedern
- Ein Jahr Wiederaufbauhilfen des Landes: Viel erreicht – und noch viel zu tun
Unser Autor: Ralf Schönfeld
ist Verbandsdirektor des
Landesverbands Haus
& Grund Rheinland-Pfalz.